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Neustart oder Untergang für den deutschen Mittelstand
von Volkmar Helfrecht
Die Politik öffnet den Geldbeutel, nach dem Motto „es ist genug für alle da“. Aber stimmt das? Viele KMUs verlieren zunächst an Substanz und einige dann ihre Existenz. Für einen Neustart des deutschen Mittelstands fehlt es hingegen an innovativen Ideen, Freude am Unternehmertum und Risikokapital. Und das wird die Kluft zwischen Arm und Reich fördern. Vielen Unternehmer*innen der KMUs bleibt nur: sich neu erfinden, nach dem Untergang.
Geldkuchen für Konzerne, Krümel für den Mittelstand
Einzelne Großunternehmen wie Tui, Leoni oder Adidas erhalten individuell ausgehandelte staatliche Unterstützung in dreistelliger Millionen- oder gar Milliardenhöhe. Um die Lufthansa durch die Wirtschaftskrise zu tragen, ist der Staat sogar bereit als Eigenkapitalgeber einzusteigen. Das sind umfangreiche Unterstützungsmaßnahmen, die den Konzernen vorbehalten bleiben. Unter anderem aus organisatorischen Gründen hat der Mittelstand hier das Nachsehen.
Aber auch kleine und mittlere Unternehmen sollen durch Staatshilfen während der Corona-Krise Unterstützung erhalten. Ob durch Mehrwertsteuersenkung, staatliche Bürgschaften, Soforthilfen oder konkrete Staatsinvestitionen. Aber das Geld kommt häufig nicht dort an, wo es gebraucht wird. Das liegt nicht am fehlenden Willen staatlicher Behörden oder Desinteresse der Hausbanken, sondern unter anderem an strengen BAFIN-Regularien und der einfachen Tatsache, dass die kleineren und mittleren Unternehmen in Deutschland zu unterschiedlich sind, um ihnen mit Standardkonzepten zu helfen. Prinzipiell sind die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen oder vorübergehenden gesetzlichen Änderungen - wie im Insolvenzrecht - sehr zu begrüßen, selbst wenn sie nicht nur Vorteile für die Volkswirtschaft mit sich bringen. Aber trotz aller bisherigen Mühen kann nicht verhindert werden, dass auch gesunde Unternehmen durch die Krise eliminiert, ganze Branchen zerstört und persönliche Existenzen vieler Unternehmer*innen und Selbstständiger vernichtet werden.
Ohne Planungssicherheit scheitern Existenzen
Insbesondere aufgrund der fehlenden Klarheit und der Entscheidungen politisch Verantwortlicher „auf Sicht“ fehlt den deutschen KMUs Planungssicherheit. Daher werden unternehmerische Entscheidungen zum Glücksspiel. So manch Unternehmer*in, der/die gerade das gesamte Privatvermögen in die Hand nimmt, um sein/ihr Lebenswerk zu retten, wäre persönlich besser beraten, der eigenen Firma jetzt ein Ende zu setzen. Aber ohne Klarheit, welche gesetzlichen Änderungen wann geändert oder aufgehoben werden, gilt das Prinzip Hoffnung. Zudem haben Unternehmer*innen kleiner und mittlerer Unternehmen mehr Verantwortung im Blut, als man es ihnen medial unterstellt, weswegen sie bis zum Schluss kämpfen, um ihren Mitarbeitenden eine Zukunft zu geben. Aus ethischer Sicht zu begrüßen, aber Dankbarkeit brauchen sie nicht zu erwarten.
Die Krise als Chance: nicht mit unseren strukturellen Defiziten
Gemäß Schumpeters Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“ kann diese Krise volkswirtschaftlich auch als große Chance gesehen werden. Neue Geschäftsmodelle werden entstehen, die Digitalisierung wird vorangetrieben, zerstörte Unternehmen lassen Kunden und Fachkräfte zurück, die sich innovative Unternehmen erschließen können. Die Frage ist nur, wird es der deutsche Mittelstand sein, der in diese Lücken stößt. Es fehlt sowohl an Risikokapital, digitaler Kompetenz als auch Attraktivität des Unternehmerberufs, um die Chancen wirksam zu nutzen. Schon vor der Krise suchten Unternehmer*innen händeringend nach Nachfolgern, die auch mit ins Risiko gehen - größtenteils blieb die Suche jedoch erfolglos. Hier zeigt, dass sich nur wenige junge Menschen für den risikobehafteten Weg der Selbstständigkeit interessieren. Denn dieser Beruf schließt auch die Möglichkeit des Scheiterns ein - in Deutschland immer noch ein Makel. Diese deutsche Schwäche, im Vergleich zur angloamerikanischen oder chinesischen Risikobereitschaft, konnte durch eine Vielzahl an Familienunternehmen kompensiert werden, deren Strategie nicht das amerikanische Modell „gründen, wachsen, verkaufen“ ist, sondern langfristiger Bestand und Tradition. Diese Unternehmen waren bereit, das verdiente Geld stets erneut zu investieren, kalkulierte Risiken einzugehen, um das Unternehmen für die nächsten Generationen fit zu machen. Die moderne Start Up Kultur lächelt müde über solch tradierten Werte. Aber genau diese Unternehmenskultur macht den deutschen Mittelstand stark und zu etwas Außergewöhnlichem. Eine der wesentlichen Säulen unserer Volkswirtschaft und ein Garant gegen das Mantra der Konzerne „höher, schneller, weiter und vor allem: kurzfristige Stärkung des Börsenwertes“.
Doch es sind eben jene KMUs, die in dieser Krise ihre Substanz verlieren und von staatlichen Hilfen der Konzerne nur träumen können. Sollten sie es trotz aller Widerstände, durch die wohl lange andauernde Krise schaffen, sind sie aufgrund der notwendigen Verschuldung dauerhaft geschwächt. Ihnen fehlt künftig die Kraft, Innovationen voranzutreiben. Ein weiterer Schwachpunkt ist die bisherige Stärke der deutschen Wirtschaft: Investitionsgüter, die weltweit exportiert werden. Auch unsere wichtigsten internationalen Partner sind durch die Corona-Pandemie geschwächt und werden sich Investitionen in deutsche Maschinen nicht leisten können. Während die chinesische Exportstärke auf günstige Produkte des täglichen Bedarfs beruht, die weiterhin gebraucht werden, sind deutsche Hochpreisprodukte aktuell eher uninteressant. Bleibt zu hoffen, dass die europäische Gemeinschaft sich nicht entzweit, sondern durch die Krise einheitlicher agiert. Aber auch hier spielen zu viele Parameter eine Rolle, um eine verlässliche Prognose abzugeben.
Ohne KMUs geht die gesellschaftliche Schere weiter auseinander
Wenn also die kleinen und mittleren Unternehmen nicht in der Lage sind, die schöpferische Zerstörung zu initiieren, der deutschen Start Up Kultur, ebenfalls durch die Krise geschwächt, das Risikokapital fehlt, dann ist es wahrscheinlich, dass die zu gewinnenden Marktanteile eher bei internationalen Konzernen landen werden. Und ich stelle die These auf, dass dies die Kluft zwischen Arm und Reich, die Ungerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft verschärft und unsere soziale Marktwirtschaft schwächt. Denn es sind die kleinen und mittleren Unternehmen, die auf Steuerflucht verzichten und bei denen Manager nicht das 100fache der Reinigungskraft erhalten. Gehaltsunterschiede wie in Großkonzernen mit ethisch fragwürdigen Boni und Abfindungsvereinbarungen gibt es bei KMUs nicht. Unternehmer*innen des Mittelstands stehen auf dem Boden der Realität, kennen Ihre Mitarbeitenden und Ihre Kunden, lieben ihr Produkt und agieren nicht wie Managementsöldner der Konzerne.
Und trotzdem: das Prinzip Hoffnung
Positiv stimmt, dass die deutsche Wirtschaft sich schon häufiger neu erfunden hat. Auch die Politik reagiert besonnen und zupackend zugleich. Zudem hat sie dank der Sparpolitik der letzten Jahre mehr finanzielle Möglichkeiten als andere Staaten. Viele Unternehmen haben aufgrund des langen Wirtschaftsaufschwungs in Deutschland ausreichend Speck, um auch schwierige Zeiten zu überstehen. Das gilt aber nicht für junge Unternehmen oder Organisationen, die aufgrund von Wachstumsinvestitionen oder Umstrukturierungsmaßnahmen geschwächt sind. Hier fehlt es an Liquidität und Eigenkapital.
Was können deutsche Unternehmer*innen nun tun? So vielfältig wie deutsche KMUs sind, so unterschiedlich fällt hierzu die Antwort aus. Letztendlich rate ich jeder verantwortlichen Führungskraft, sich eine kurze Auszeit zu gönnen und sich zu fragen: Hat mein Unternehmenskonzept noch Zukunft? Wie viel Kraft, Geld und Leidenschaft kann ich noch investieren, ohne selbstzerstörerisch zu handeln? Bin ich ehrlich zu mir selbst oder übersteigt das Prinzip Hoffnung alles Rationale? Wo ist meine Schmerzgrenze und wie sichere ich mich ab? Kann ich durch innovative Ideen mich neu erfinden und die schöpferische Zerstörung, die in jeder Krise steckt, für mein Unternehmen nutzen? Ist ein Neustart für mein Unternehmen oder für mich möglich? Wie kann dieser aussehen?
Selbstverständlich gibt es viele Branchen, die von dieser Krise noch nicht betroffen sind. Einige profitieren sogar an der aktuellen Situation. Doch auch hier muss mit Umsicht agiert werden. Denn die eigentlichen Auswirkungen der Krise kommen erst. Bisher waren wir im Krisenmodus, schrittweise kehren wir nun zurück zur neuen Normalität. Es wird eine Normalität mit weniger Nachfrage, mit strauchelnden europäischen Volkswirtschaften, mit einer höheren Arbeitslosigkeit und geringeren Steuereinnahmen sein. All das wirkt sich auf deutsche Unternehmen aus. Daher sollte jede Führungskraft kritisch die eigenen Pläne und die persönliche Situation hinterfragen.